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Freitag, 19. April 2024
Eine Frage der Perspektive

Über Higgs-Teilchen im All

Hintergrund | Andreas Rockenbauer | 03.09.2017 | Bilder | | 1  Archiv
Um als Staubkorn im All zu gelten, müsste ich wohl zumindest die Masse eines ganzen Sonnensystems haben, von dem es allein in unserer Galaxie etwa 100 Milliarden(!) geben soll Um als Staubkorn im All zu gelten, müsste ich wohl zumindest die Masse eines ganzen Sonnensystems haben, von dem es allein in unserer Galaxie etwa 100 Milliarden(!) geben soll

Seit etwa einem Jahr trage ich ein dünnes Stück zweiseitig bedruckten Kartons von der Größe einer Visitkarte in meiner Brieftasche mit mir herum. Auf der einen Seite steht: „Ich bin der Mittelpunkt der Welt.” Auf der anderen: „Ich bin ein Staubkorn im All.”

Bevor ich auf den Sinn dieses Stückchen Kartons eingehe, kann ich es mir nicht verkneifen anzumerken, dass der Vergleich von mir als Staubkorn im All auf den ersten Blick zwar bescheiden daher kommt, bei näherer Betrachtung aber natürlich eine heillose Übertreibung ist. Denn um als Staubkorn im All zu gelten, müsste ich wohl zumindest die Masse eines ganzen Sonnensystems haben, von dem es allein in unserer Galaxie etwa 100 Milliarden gibt (bei geschätzten weiteren 100 Milliarden Galaxien). So gesehen würde etwa „Higgs Teilchen im All” der Realität vermutlich näher kommen – auch was die Dauer meines Daseins betrifft.

Wen es interessiert: Ein Higgs Teilchen (Higgs Boson, theoretisch vorhergesagt bereits in den 1960ern vom theoretischen Physiker Peter Higgs, experimentell nachgewiesen 2012 im Schweizer CERN) hat neben einer Masse, die ob ihrer Geringfügigkeit jenseits aller Vorstellungskraft liegt, eine mittlere Lebensdauer von ebenso wenig vorstellbaren 10 hoch minus 22 Sekunden, also etwa ein Hunderttausendstel des Millionstels eines Millionstels einer Millionstelsekunde (wenn ich mich nicht verrechnet habe und das sprachlich einigermaßen korrekt ist).

Zurück zur Karte: Die hatte Felix Gottwald, vielfacher Medaillengewinner in der Nordischen Kombination, vor einiger Zeit anlässlich eines spannenden Vortrags ausgeteilt und die Idee dahinter fand ich interessant. Die Karte drückt nämlich die beiden gänzlich unterschiedlichen Perspektiven aus, die man einnehmen kann, um den verschiedensten Lebens-Situationen adäquat zu begegnen.

So macht es etwa am Balken einer Schisprungschanze vor dem Absprung wenig Sinn, sich in Erinnerung zu rufen, dass man kosmisch gesehen wenig mehr als ein Nichts mit Ohren ist (vorausgesetzt, man möchte gewinnen). Und beim kleinsten Erfolg den „Ich bin der Mittelpunkt der Welt” heraushängen zu lassen, ist auch nicht hilfreich. Die Karte soll also daran erinnern, dass es klug ist, die richtige Perspektive zum richtigen Zeitpunkt zu wählen. Und das ist leichter gesagt als getan.

Immerhin haben viele Menschen große Schwierigkeiten damit und stecken in einer der beiden Perspektiven fest, ohne vielfach zu erkennen, dass es noch eine andere gibt. Das ist auch ein prinzipielles Problem unserer Branche. Ohne jetzt undifferenziertes Industriebashing betreiben zu wollen, ist es offensichtlich, dass in den Führungsetagen großer Unternehmen tendenziell die Mittelpunktperspektive verbreitet ist und jene des Staubkorns im All eher ein Schattendasein fristet.

Andererseits haben sich viele Händler in den verheerenden Glaubenssatz verbissen, sie seien ohnehin nur noch ein Rädchen im Getriebe, bloß Spielball fremder Kräfte und hätten keinen Gestaltungsspielraum mehr. Beides ist falsch und führt zu unternehmerischem Fehlverhalten.

Gut geerdetes Selbstbewusstsein würde wohl am ehesten eine Perspektive auf die Welt beschreiben, die beiden Seiten der Karte einigermaßen gerecht würde.

Es kommt nicht von ungefähr, dass das Rationale, das vernünftige Denken und Handeln vom lateinischen Wort „ratio” kommt und unter anderem Verhältnis bedeutet. Und die Verhältnismäßigkeit ist es auch, die eine entscheidende Rolle in allen Lagen des Lebens spielt und die zu finden, nicht immer einfach ist. Denken Sie an jene Menschen, die uns mit ihrer Hybris fürchterlich auf die Nerven gehen, mit ihrer unverrückbaren Ansicht, sie seien der Nabel der Welt. Aber auch an jene, die in Demut erstarren, aus dieser Haltung heraus nichts weiterbringen, und uns mit ihrer Langeweile verrückt machen.

In diesem Zusammenhang möchte ich an zwei Ereignisse erinnern. Erstens ist vor etwas über einem Jahr, am 30. Juli 2016, mein Vater und E&W-Gründer Helmut J. Rockenbauer gestorben und mit ihm einer, der je nach Situation beide Seiten der Gottwald-Karte gekonnt ausspielen konnte. Er war einer, der ab und an auch mal heftig übers Ziel schoss, wenn ihn die Leidenschaft übermannte, der aber immer authentisch blieb dabei und sich bei aller Vehemenz, mit der er seine Überzeugungen vertrat, nie zu wichtig nahm.

Ein zweites Ereignis kündigte sich bereits im Spätherbst des vergangenen Jahres an und folgt nun den Schatten, die es vorausgeworfen hatte: Anton Schalkamp, das ehemalige Bose-Mastermind und begnadeter Geschichtenerzähler, ist nun endgültig zurück auf der Branchenbühne. Zusammen mit einer Schar alter Bekannter wie Jürgen Imandt und Uli Hempel ist er angetreten, um die Bose-Story zur Revox-Story umzuschreiben.

Denn während Bose seit etwa drei Jahren in die tiefste Zentralisierungsphase abgetaucht ist und jegliche Verhältnismäßigkeit verloren zu haben scheint, ist Anton Schalkamp bei aller Leidenschaft ganz Mann des klugen Austarierens. Er war immer schon überzeugt davon, dass große Unternehmen eine Art hybride Strategie konsequent umsetzen sollten: Auf der einen Seite zentral all das knallhart abzuwickeln, was aus einem Guss sein muss – hierbei Mittelpunkt der Welt zu sein – und gleichzeitig die eigene Meinung nicht zu wichtig zu nehmen, das Ohr ganz nah an den lokalen Märkten und den Partnern zu haben und mit feinem Sensorium all das aufzunehmen, was von dort an Information kommt. Sich also situativ und klug beider Seiten der Gottwald-Karte zu bedienen. Wir dürfen gespannt sein.

Bilder
Das ist eine Seite der Karte, die Felix Gottwald bei vielen seiner Vorträge austeilt
Das ist eine Seite der Karte, die Felix Gottwald bei vielen seiner Vorträge austeilt
Und das ist die andere...
Und das ist die andere...
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Kommentare (1)

  1. Alles Gute für Revox und das neue Team

    Bose und Revox gehören zu den Marken die auch mir seit meiner Technik und Hi-Fi affinen Jugend wichtig sind und die Geschichte ist auch bei mir letztes Jahr auf viel Unverständnis gestoßen ist.
    Letztlich sind es aber nicht Firmen die charakterlos agieren, sondern einzelne Individuen, sogenannte Manager die sich aus Verlustangst nicht trauen aufzustehen oder die seit langem nur die „Ich bin der Mittelpunkt der Welt“ Seite der Karte kennen. Diese verstecken sich bei kurzsichtigen oder unmenschlichen Entscheidungen meistens hinter der Anonymität des Konzerns oder einer ohnehin verhassten Consulting Firma.
    Es gibt aber auch noch viele Firmen die auf mitdenkende Mitarbeiter setzen und die Loyalität zu ihren Mitarbeitern und deren Weiterbildung als wichtigste Grundlage sehen um sich ständig verbessern- und Spitzenpositionen am Markt erreichen / halten zu können. Das ist es was Firmen oft in die Champions-League hebt und das funktioniert nur wenn das Management auch die „Ich bin ein Staubkorn im Universum“ Seite der Karte kennt. Dann sind sie in der Lage zu vertrauen und Verantwortung abzugeben. Die Mitarbeiter kennen ihren Job und wissen auch was zu tun ist wenn man sie lässt.
    In diesem Sinne hoffe ich das Beste und wünsche Revox und dem neuen Team alles Gute.

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