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Freitag, 29. März 2024
Was wir schon immer gewusst haben

Smartphones vermasseln die Selbstorganisation

Über den Rand | Dominik Schebach | 21.03.2021 | |  
Gegenstrom-Experiment mit abgelenkten Fußgängern: (A) Ein Schnappschuss von einem der Experimente unter „Front“-Konditionen (die abgelenkten Fußgänger befinden sich am Beginn der Gruppe). Die Positionen der „abgelenkten“ Fußgänger sind blau markiert. (B) Repräsentative Samples der Wege von Fußgängern mit den Störern (i) im vorderen Teil, (ii) im mittleren Teil, (iii) im hinteren Teil der Gruppe, sowie die Vergleichsgruppe ohne Störer. Gegenstrom-Experiment mit abgelenkten Fußgängern: (A) Ein Schnappschuss von einem der Experimente unter „Front“-Konditionen (die abgelenkten Fußgänger befinden sich am Beginn der Gruppe). Die Positionen der „abgelenkten“ Fußgänger sind blau markiert. (B) Repräsentative Samples der Wege von Fußgängern mit den Störern (i) im vorderen Teil, (ii) im mittleren Teil, (iii) im hinteren Teil der Gruppe, sowie die Vergleichsgruppe ohne Störer. (© Hisashi Murakami, Kyoto Institute of Technology; The University of Tokyo) Die Situation ist bekannt – und auch in Corona-Zeiten durchaus anzutreffen. Man bewegt sich flüssig in einer Menschenmenge am morgendlichen Bahnsteig und plötzlich stockt alles. Ein abgelenkter Smartphone-User blockiert den Weg, für alle. Forscher an der Universität von Tokyo haben sich nun des Problems in einem Experiment angenommen und die Auswirkung solcher Fußgänger auf Verkehrsfluß erhoben. Während einige das als ein „No-Na-Ergebnis“ abtun mögen, haben die Ergebnisse für Stadtplaner, Architekten und Verkehrspsychologen durchaus Bedeutung. Interessant ist allerdings auch der Prozess der Erkenntnisgewinnung.

Die Grundannahme ist scheinbar einfach: Fußgänger beobachten ihre Umgebung und antizipieren anhand unbewusster Signale der anderen Personen, deren Absicht und Bewegungsrichtung. Aufgrund dieser wählen sie wiederum ihren Kurs. Dies wird verstärkt durch den Umstand, dass folgenden Passanten sozusagen den Windschatten ihrer Vorderleute ausnutzen, um durch die Menge zu navigieren. Damit entstehen bevorzugte Spuren, auf denen sich die Fußgänger passieren. So weit so klar.

Wie jetzt allerdings Hisashi Murakami, Claudio Felicani, und Katsuhiro Nishinari von der Tokioter Universität sowie Yuta Nishiyama von der Universität in Nagaoka in ihrer Studie (Mutual anticipation can contribute to self-organization in human crowds) herausgefunden haben, verlangsamt sich das System, sobald nur ein paar Smartphone-User im Spiel sind, die mehr oder weniger gedankenverloren auf ihr Lieblingsspielzeug starren. Denn in diesem Fall haben nicht nur die „abgelenkten“ Smartphone-User, sondern auch die „nicht-abgelenkten“ normalen Fußgänger Schwierigkeiten, eine Kollisionen im Gedränge zu vermeiden. Die Forscher schließen daraus, dass die Vermeidung von Kollisionen ein kooperativer Prozess sei. Die gegenseitige Antizipation zwischen Fußgängern stelle ein effizientes selbstorganisierendes System dar – was wiederum Auswirkungen auf das Traffic-Management sowie die Erforschung von Entscheidungsprozessen und Schwarmverhalten habe.

Für ihre Untersuchung bedienten sich die Forscher eines einfachen Versuchsaufbaus und frei verfügbarer Ressourcen. Sie ließen zwei Gruppen von insgesamt 54 Studenten auf einem virtuellen Bahnsteig gegeneinander strömen. Solange alle Fußgänger aufmerksam bei der Sache waren, bildeten sich fast sofort bevorzugte Spuren und die Gruppen passierten sich ohne große Schwierigkeiten. Bei den weiteren Durchgängen mussten jeweils drei Studenten einer Gruppe beim Gehen einfache mathematische Aufgaben auf dem Smartphone lösen. Befanden sich die „abgelenkten“ Fußgänger im hinteren Teil ihrer jeweiligen Gruppe hatten sie fast keinen Auswirkungen. Sie hatten sich einfach einem Band angeschlossen und wurden im Verkehr mitgezogen. Ganz anders war die Situation allerdings, sobald die „abgelenkten“ Fußgänger im vorderen Teil ihrer Gruppe marschierten. Denn dann versuchten zwar „nicht abgelenkte“ und „abgelenkte“ Fußgänger sich ebenfalls gegenseitig auszuweichen, da allerdings der Blick der drei „Störer“ auf die Smartphones geheftet war, wurde dadurch nur das Chaos vergrößert, weil für die Ausweichbewegungen für die anderen Versuchsteilnehmer unvorhersehbar war und es dauerte deutlich länger, bis selbst die disziplinierten Japaner effiziente Bahnen gebildet hatte. – Mit dem Ergebnis, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit für alle sank.

Mit anderen Worten, ein kleines elegantes Experiment: Die vier Forscher haben ein Allerweltsproblem, abgelenkte Smartphones-User im Fußgänger-Verkehr, das wir alle intuitiv verstehen und über das wir uns oft ärgern, aufgegriffen, in eine Forschungsfrage übersetzt, daraus einen Versuchsaufbau abgeleitet, die Untersuchung durchgeführt, das Ergebnis gemessen, akribisch dokumentiert, in einige Formeln gefasst und veröffentlicht. So können nun andere Forscher hergehen, und dieses Problem auf andere Art und Weise untersuchen, womit sich das Ergebnis bestätigen oder widerlegen lässt. Zusätzlich hat die Forschergruppe Folgefragen sowie Anwendungsfelder in der Praxis wie z.B. eben Stadtplanung oder Architektur aufgezeigt, wo sich ihre Erkenntnisse verwenden lassen. Das Ganze oft genug durchgeführt, ergibt schlussendlich einen wissenschaftlichen Konsens.

Für mich persönlich nehme ich mir mit, dass abgelenkte Smartphone-User in der morgendlichen U-Bahn sich wie Billard-Kugeln verhalten. Ich habe daher selbst einen Grund mehr, am Morgen in der U-Bahn und in der Station das Smartphone in der Tasche zu lassen, und ansonsten „abgelenkte“ Zeitgenossen weiträumig zu umgehen sind. Denn so nützlich sie auch sonst sind, in diesem Fall gilt: Smartphones vermasseln die Selbstorganisation.

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