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Donnerstag, 25. April 2024
Über Binnen-I und Gendersternchen

Sorgenkinder in Wort und Schrift

Wolfgang Schalko | 23.05.2021 | Bilder | | 3  Meinung

Wolfgang Schalko
Kennen Sie das: Es gibt Probleme und Themen, die weder zeitkritisch noch lebenswichtig sind, aber dennoch bzw gerade deshalb ungelöst bleiben und daher latent und hintergründig ständig mitschwingen. Hin und wieder poppen sie aufgrund eines aktuellen Anlassfalles auf, um schon kurz darauf wieder in ihr Schattendasein zu treten – und dieses Spielchen an irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt fortzuführen. Ein Paradebeispiel dafür ist meines Erachtens der Versuch, Geschlechter sprachlich auszudrücken.

Liebe Leser!
Liebe Leserinnen und Leser!
Liebe Leser und -innen!
Liebe LeserInnen!
Liebe Leser:innen!
Liebe Leser*innen!
Liebe Leser/innen!
Liebe Leser_innen!
Liebe Lesende!

Mein Problem ist offensichtlich: In welcher dieser Formen auch immer ich mich an Sie wende, irgendetwas wirkt störend daran. Dabei ist eine gewählte und korrekte Ausdrucksweise – zu der zweifelsfrei die Ansprache des Zielpublikums gehört – ein elementarer Bestandteil im Journalismus. Aber nicht nur dort, sondern auch im Marketing, in der geschäftlichen Kommunikation und eigentlich überall dort, wo eine unspezifische oder heterogene Menschengruppe adressiert wird. Wegen so einer vermeintlichen Banalität will man sich’s schließlich mit niemandem verscherzen…

Es handelt sich hier definitiv um ein heikles Thema, dessen Spektrum in der praktischen Umsetzung die obigen Formen der Ansprache aufzeigen sollen: vom traditionellen „Liebe Leser” (generisches Maskulinum – maskuline Personenbezeichnungen, die geschlechtsabstrahierend verwendet werden) über die diversen heute gebräuchlichen gendersensiblen Varianten (wobei der Doppelpunkt – „Liebe Leser:innen” – gerade hoch im Kurs steht) bis hin zur neutralen Form („Liebe Lesende”). Letztgenannte Variante halte ich persönlich zwar für höchst erstrebenswert, in der Praxis stößt man jedoch schnell auf das Problem, dass diese Art der Wortbildung leider nicht immer möglich ist – als generelle Lösung fällt sie damit aus.

Den Kern der Problematik bildet aus meiner Sicht ein simpler Umstand: Sprache ist zwangsläufig immer reduzierend. Vieles, ja sogar das Meiste, muss erst im Kopf des Empfängers entstehen. Von daher ist gendersensible Ausdrucksweise vielleicht „nur“ als Hilfestellung zu betrachten, den Empfänger der Botschaft auf nichts und niemanden vergessen zu lassen. Für mich ist es völlig selbstverständlich, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht – männlich, weiblich, trans, inter, non oder was auch immer – gleich sind und stets auch mit gemeint sind. Es ist höchst bedenklich und traurig, wenn man das in einer Gesellschaft, die sich selbst als emanzipiert und am bis dato höchsten Punkt der Entwicklung angekommen betrachtet, jedes Mal dazusagen muss – ich vermute, oftmals lassen hier übertriebene Political Correctness und/oder die Angst vor der „Generation Shitstorm” grüßen.

Im Sinne der Gleichberechtigung (Stichwort Emanzipation der Frau) sind die Versuche, diese auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, natürlich ebenso berechtigt wie nachvollziehbar – leisten sie doch einen wichtigen Beitrag dafür, diese Geisteshaltung als selbstverständlich zu etablieren. Gerade weil stets alle explizit an- und ausgesprochen werden sollen, steigt aber die Gefahr, auf manche zu „vergessen” – man denke allein an jene Gruppen, die in der LGBT-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) zusammengefasst sind. Aktuell wird die damit verbundene Herausforderung bei der Anmeldung für die Covid-19-Schutzimpfung ersichtlich, wo man bei „Geschlecht” zwischen „weiblich”, „männlich”, „divers”, „inter”, „offen” oder „kein Eintrag“ wählen kann. Wenig verwunderlich findet sich auf dem Formular nirgendwo eine persönliche Anrede.

Für mich und meine Handhabung im journalistischen Alltag habe ich – Anhänger des Pragmatismus, der ich bin – einen vertretbaren Kompromiss darin gefunden, dem Prinzip des generischen Maskulinums zu folgen: Zum einen, weil ich es für selbstverständlich und das Normalste auf der Welt halte, dass man Menschen aufgrund von Geschlecht, Rasse, Religion, sexueller Orientierung, etc. nicht diskriminiert. Zum anderen, weil es schlichtweg die am einfachsten umzusetzende Variante ist (noch dazu die kürzeste – und Platzmangel gehört bekanntermaßen zu den natürlichen Feinden des Journalisten).

Immer in Bewegung

Das Schöne an Sprache ist, dass sie sich entwickelt. Darum muss sie auch immer im Kontext gesehen werden – die historischen, gesellschaftlichen und weiteren Begleitumstände sind wichtige Faktoren bei der Verwendung und damit auch für das Verständnis von Sprache. Das fällt beispielsweise dann auf, wenn man Kindern aus alten Märchenbüchern vorliest (persönliche Anmerkung: Da wurde den lieben Kleinen mitunter ganz schön Deftiges zur guten Nacht vorgesetzt…). Aber auch, wenn man sich an die Debatten rund um die „Söhne” in der Bundeshymne oder Bezeichnungen wie „Negerschnitte” und „Zigeunersauce” erinnert, denn natürlich sind offensichtlich problematische Ausdrücke zu ändern und historische Texte eventuell mit entsprechenden verständnisfördernden Erläuterungen zu versehen. Wobei ich zugeben muss, dass bei der Einordnung enormes Fingerspitzengefühl gefragt ist und Menschen nicht immer sofort und gerne ihren „gelernten” Ausdrücken abschwören. Wahrscheinlich sind genau deshalb die Wogen derart hoch gegangen, als der Duden – das „Heiligtum” der deutschen Sprache – kürzlich mit dem Gendern begann…

Ich will die Beschäftigung mit der bestmöglichen genderneutralen Sprachausprägung nicht kleinreden, der Kern des Problems sitzt jedoch tiefer und besteht meines Erachtens darin, dass wir aus der Geschichte heraus in einer männerdominierten Welt leben. Das machte (und macht) sich in der Ausformung der Sprache bemerkbar, aber mehr noch in der Konstruktion der Gesellschaft mit all ihren Normen, Regeln und Werten. Gerade das, was typischerweise als die Ansicht und Haltung von „alten weißen Männern” gilt, bräuchte dringendst eine radikale inhaltliche Frischzellenkur – nicht nur, aber eben gerade auch von Frauen. Es braucht mehr Stimmen von Frauen – nicht wegen der Quote, sondern wegen neuer Perspektiven sowie anderer Herangehensweisen und Prioritäten. Nachhaltigkeit statt Profitmaximierung, Gemeinwohl statt Egozentrismus, Solidarität als gelebtes Prinzip – viele müssen bei solchen Gedanken erst einmal durchatmen und schlucken.

Aber wo wir gerade drüber reden: Wissen Sie, was der stimmlose glottale Plosiv – auch Glottisschlag genannt – ist? Das Gleiche wie der Knacklaut, Stimmritzenverschlusslaut, Glottisverschlusslaut, Einschaltknack, Kehlkopfverschlusslaut und Glottalstopp. Per Definition „in der Phonetik ein Konsonant, der durch die plötzliche, stimmlose Lösung eines Verschlusses der Stimmlippen gebildet wird.” Sie verstehen gerade nur Bahnhof? Klar wird das Ganze, wenn Sie ein „Spiegelei” bestellen. Gemeint ist diese kurze, aber äußerst wichtige Pause zwischen dem Spiegel und dem Ei. Genau dieses Prinzip lässt sich sich zB auch auf die „Leser:innen” – und somit hervorragend zum Gendern – anwenden.

Damit genug: Jetzt machen Sie sich bitte einen schönen Sonntag und nicht zu viele Gedanken über das soeben Gelesene! Es holt Sie früher oder später sowieso wieder ein 😉

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Kommentare (3)

  1. Mann kann es ja (augenzwinkernd) auch so sehen:
    Endlich ist der Kunde, der Gewinner und der Leser entweibt und somit rein maskulin!
    Und natürlich werden Männer gendergerecht ab sofort nicht mehr „gesiezt“, sondern „Geert“ – also nicht: Haben SIe gut geschlafen? – sondern :Hat Er gut geschlafen? Es gibt also noch einiges zu tun..;-)

  2. Liebe Lesende,

    es hat sich hier zweifelsohne ein solcher wertschätzender Mann Gedanken gemacht, der in der Gegenwart lebt und auch alle Menschen, die nicht männlich sind, achtet. Das ist aber längst keine Selbstverständlichkeit!
    Nicht nur, weil wir in der Realität bis dato noch keine Gleichberechtigung leben (das sieht man schon anhand der Einkommenssituationen in div. Berufsfeldern!), sondern auch, weil sich noch genug Männer und auch Burschen auf ihre religiösen Schriften berufen – und das ist wahrlich nicht nur im radikalen Islam so, sondern auch im orthodoxen Christentum wie auch im orthodoxen Judentum, etc.

    Sprache – gedachte, gesprochene wie gedruckte – hat gewaltige Auswirkungen auf unser Handeln, weshalb ich jedenfalls dafür bin, sie sorgfältig zu verwenden!
    Das Thema „Sprache und ihr Gebrauch“ halte ich für äußerst notwendig – und wer das nicht glaubt, der höre sich mal um, besonders, wenn er in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist … Ich will hier weder Jugendliche noch Kinder besonders herauspicken, denn es ist auch ein Graus, mit welchen Schimpftiraden und Beleidigungen solche agieren, die schon mühsam gebeugt auf ihre Stöcke gestützt unterwegs sind – und so manches Mal, vereinzelt, wohl auch einen erhobenen Stock wie eine Waffe einsetzen möchten, zusätzlich zu ihren verbalen Entgleisungen …

  3. Vermeintlich radikal wäre noch: Liebe Leserinnen – und dabei auch die Leser (gedanklich) zu inkludieren.
    Umgekehrt ist es Standard.

    2

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