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Dienstag, 15. Oktober 2024
Ein Plädoyer für die zweitbeste Lösung

Kompromiss – Stärke oder Schwäche?

Wolfgang Schalko | 25.09.2022 | Bilder | |  Meinung
(© Dieter Schütz / pixelio.de) Man spricht gemeinhin zwar von der goldenen Mitte, der Mittelweg hingegen hat keinen allzu guten Ruf: „lau”, „verwässert” und ähnliche Attribute schwingen häufig mit, wenn Kompromisse erzielt werden. Dabei ist das Einigen auf Kompromisse nicht nur etwas Allgegenwärtiges, sondern die Bereitschaft dazu auch etwas durchaus Tugendhaftes – bilden sie doch oftmals den einzigen friedvollen Ausweg aus Konfliktsituationen bzw. konträren Interessenslagen.

Ich bin kürzlich im Falter über eine Buchrezension mit dem Titel „Ehrenrettung für den Mittelweg” gestolpert. Darin wurde das Werk „Spielarten des Kompromisses” der deutschen Philosophin Vérnoique Zanetti behandelt, die gleich in der Einleitung festhält, dass Kompromisse bei rechtlichen Entscheidungen und im Alltag geradezu unumgänglich sind – und daran die Fragen anknüpft: „Warum sind sie trotzdem so unbeliebt? Sind sie nicht Zeichen friedliebender Gesinnung und der Bereitschaft, auf ursprüngliche Wünsche zu verzichten? Andererseits: Was geschieht jemandem, der/die sich auf eine einvernehmliche Lösung einlässt und zugleich eine andere für richtig hält?

Nachdem ich selbst ein ausgesprochener Verfechter von Kompromissen bin, um an Konflikte im Sinne eines konstruktiven Ausgangs heranzugehen, halte ich es für essenziell, sich über das Wesen des Kompromisses bzw. die selbst eingegangenen Kompromisse Gedanken zu machen – die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema halte ich erst recht für hoch interessant. Zumal die Autorin in der Einleitung weiter erklärte: „Ich werde mich lieber auf Situationen beziehen, in denen es darum geht, dass ein Kompromiss nicht ohne ein gewisses Bedauern geschlossen wird und dass dieses Bedauern begründet ist, und zwar nicht nur in einem psychologischen Sinn. Der Kompromiss steht für einen unbefriedigenden Handel, selbst wenn sich unter den jeweiligen Umständen nichts Besseres herausholen ließ. Ein ‚echter‘ Kompromiss wird geschlossen, wenn eine Einigung nicht in Aussicht steht. Dennoch, so meine These, erfordert jeder Kompromiss eine minimale Verständigung zwischen den Opponenten. Die These ist nicht so banal, wie sie auf Anhieb klingt, denn der Kompromiss bietet sozusagen die Möglichkeit einer letzten Zuflucht. Dort, wo der Streit sich nicht auflösen lässt, kann man losen, die Mehrheit entscheiden lassen oder eben: sich auf einen Kompromiss verständigen.” Oder wie es schon vor etwas längerer Zeit der französische Friedensnobelpreisträger Aristide Briand (1862 – 1932) auf den Punkt brachte: „Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind.” Demgegenüber stellt Zanetti klar: „Eine unter Gewaltandrohung oder missbräuchlich oder trügerisch erzielte Einigung ist kein Kompromiss, ebenso wenig eine solche, die nur von einer Seite getragen wird.”

Ich persönlich halte Kompromisse deshalb so spannend, weil sie stets mit gewissen Abstrichen (und damit einem gewissen Unbehagen) verbunden sind, aber zugleich mit dem Wissen bzw. der Gewissheit einhergehen, im Sinne der Sache das „Richtige“ getan zu haben – ohne je genau sagen zu können, an welcher Stelle des Graubereichs, im den ein Kompromiss möglich gewesen wäre, man am Ende tatsächlich gelandet ist. Unbestritten ist indes, dass Kompromisse unser aller Leben prägen, im Großen wie im Kleinen. Als plakatives Beispiel nennt die Philosophin: „Wenn es dessen bedurfte, ist die durch Covid-19 ausgelöste Krise eine ausgezeichnete Illustration der Tatsache, wie sehr Kompromisse den Kern unserer politischen, rechtlichen und moralischen Entscheidungen bilden, ja unsere alltäglichen Konflikte prägen. Seitdem feststand, dass die Welt von einer Pandemie heimgesucht wird, war klar, dass lokale oder nationalstaatliche Maßnahmen nicht ausreichen, um die Herausforderung zu meistern. Idealerweise hätte es genügt, einen generellen Lockdown über den Planeten zu verhängen, um das Virus in kurzer Zeit loszuwerden. Doch in der Realität war das nicht durchsetzbar. Die erkrankten Personen mussten behandelt werden, das behandelnde Personal war auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen, die Menschen mussten sich weiterhin ernähren, die Kette der Herstellung und Verteilung von Lebensmitteln musste aufrechterhalten werden usw. Mehr oder weniger harte Kompromisse zwischen gegenläufigen Erfordernissen waren einzugehen, Sicherheitsrücksichten konkurrierten mit Grundbedürfnissen.”
Ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter wie notwendiger Kompromiss betrifft momentan den Energiesektor: Wir (als EU) verhängen einerseits wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, importieren auf der anderen Seite aber weiter russisches Gas (und finanzieren damit erst recht wieder jenes Kriegstreiben, das wir eigentlich beenden wollen). Und wenn im Winter dem Heizen mit russischem Gas das drohende Erfrieren gegenübersteht, ist selbst bei noch so vehementen Kriegsgegnern und Putin-Kritikern der moralische Kompromiss mit sich selbst wohl schnell erzielt. Ein Paradebeispiel für die Konstruktivität von Kompromissen liefern auch die alljährlichen KV-Verhandlungen, bei denen sich die Sozialpartner am Ende immer irgendwo in der „Mitte” treffen.

Kompromisse über Sachfragen sind übrigens einfacher als Kompromisse in Wertefragen. Und ja, Kompromisse können auch „faul” sein, wenn die Beteiligten ihre Werte aufgeben, um einen noch so kleinen Vorteil zu ergattern, oder wenn ein eigentlich inakzeptables moralisches Übel akzeptiert wird. Falter-Rezensent Robert Misik schrieb: „Zanettis Buch kulminiert in einem ‚Plädoyer für den Kompromiss‘. Dabei macht es sich die Autorin keineswegs leicht. Sie weiß, dass ‚große soziale Veränderungen‘ meist von jenen Menschen vorangetrieben wurden, ‚die sich kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben‘. Aber zugleich sind diese Veränderungen in Kompromissen verwirklicht worden. Mehr noch: Der Kompromiss ist selbst eine Tugend: Er lebt von der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Vom Respekt füreinander. Und auch von der Anerkennung des Vorrangs einer friedlichen Lösung.”

Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen – außer vielleicht die Frage, ob der Kompromiss tatsächlich „nur” die zweitbeste Lösung darstellt.

Bilder
(© Dieter Schütz / pixelio.de)
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