Der Hut brennt
Wolfgang Schalko Selbst wenn man (noch) nicht direkt von der Problematik betroffen sein sollte, ist es momentan fast unmöglich, sich der Arbeits- und Fachkräftedebatte zu entziehen. Zurecht, denn es handelt sich um ein Thema, das uns im wahrsten Sinne des Wortes alle angeht. Die Arbeitslosigkeit ist alles andere als astronomisch, die Wechselbereitschaft hingegen hoch wie nie. Dennoch klagt derzeit kaum ein Bereich nicht über Personalmangel. Ganz offensichtlich läuft hier – nach wie vor – einiges schief.
Es gilt also, sich auf Ursachenforschung zu begeben, das Ausmaß des Bedarfs auszuloten sowie praktikable Lösungen aufs Tapet zu bringen. Und dabei natürlich auch und gerade die Perspektive der Arbeitenden nicht zu vergessen. Mit dem Coverthema dieser E&W-Ausgabe greifen wir diese Thematik sehr umfassend und gezielt in Hinblick auf die Elektrobranche auf. Zum ersten, aber sicher nicht zum letzten Mal in diesem Jahr. Denn es handelt sich um ein Themenfeld, das unglaublich weitläufig und komplex ist – und je tiefer man in die Materie eindringt, desto komplexer wird sie: vielschichtiger, detailreicher und mit einer Vielzahl anderer Bereiche untrennbar verwoben. Angesichts dessen wird aber auch sehr schnell klar, dass es keine einfachen Antworten auf die vielen Fragen geben wird und dass auch die Suche nach DER Lösung für das Problem bloß ein frommer Wunsch bleiben kann. Die Diskussion überwiegend auf einer quantitativen Ebene zu belassen, wird ebenfalls nicht zielführend sein: Soll das Pensionsantrittsalter weiter erhöht werden? Oder die Wochenarbeitszeit? Oder doch das Gehalt? Und vor allem: Woher all das benötigte Personal auf die Schnelle nehmen? Schließlich wird der Pool der potenziellen Arbeitskräfte nicht von heute auf morgen größer…
Natürlich wird man um die Berücksichtigung von Zahlen und Daten nicht umhinkommen bzw. soll das auch gar nicht, aber im Kern der Sache wird es um qualitative Ansätze und Betrachtungen gehen müssen – von einer fundierten Analyse der Motive hüben wie drüben über eine Aufarbeitung und eventuellen Neudefinition von Begriffen wie „Leistung”, „Vollzeit” oder „Wohlstand“ bis hin zur sozialen Frage und den gesamtgesellschaftlichen Aspekten der Arbeit. Zwei Fragen scheinen hier besonders bedeutsam zu sein und noch weiter an Gewicht zu gewinnen: Erstens, warum jemand überhaupt arbeitet, und zweitens, welcher Wert dieser Arbeit beigemessen wird.
Ein wesentlicher Antriebsfaktor, einer beruflichen (=Erwerbs-)Tätigkeit nachzugehen, ist – no na – weil man das Geld braucht. Ein zweiter, nicht zu unterschätzender, lautet, weil man es gern macht. So oder so: Ob die Entlohnung „stimmt”, liegt in der subjektiven Wahrnehmung und darf Monat für Monat beim Blick aufs Bankkonto hinterfragt werden. Ich bin überzeugt davon, dass sich in Zukunft jeder von uns dieser Frage sehr intensiv widmen wird müssen – nicht nur monetär und auch nicht nur zu Monatsbeginn. Dazu ein aktuelles Beispiel aus der Welt der Medien, das wohl hinlänglich bekannt ist: Mit der kürzlichen Veröffentlichung von ChatGPT wurde vielerorts sogleich das Ende des Journalismus heraufbeschworen. Wozu sollte ein Mensch Texte verfassen, wenn das auch eine KI erledigen kann? Noch dazu, wo der Mensch monatlich einen vierstelligen Eurobetrag kostet und die Software für ein paar Euro im gleichen Zeitraum werkt. Diese Frage haben wir uns redaktionsintern natürlich ebenfalls gestellt und die Probe aufs Exempel gemacht (Danke an dieser Stelle an meinen Kollegen Dominik Schebach, der seiner Neugier als erster nicht mehr widerstehen konnte). Das Ergebnis: Nun ja, ChatGPT liefert Brauchbares – wenn man standardisierte Texte, wie z.B. Produktbeschreibungen, benötigt. Ernsthafte Konkurrenz zum seriösen Journalismus ist die Software nicht (Anm.: Wie sollte sie auch, wenn man die Funktionsweise betrachtet).
So wie in obigem Beispiel die Bewertung einer journalistischen Tätigkeit erfolgt ist, wird sie in mehr oder weniger allen Berufsfeldern zu geschehen haben. Man sollte dabei allerdings nicht den Fehler begehen, Dinge von vorne herein auszuschließen, nur weil sie sich diametral entgegen zu stehen scheinen. Was, wenn ChatGPT gar keine Konkurrenz für den Journalist darstellt, sondern vielmehr eine Bereicherung? Wir alle – hier in der E&W-Redaktion ebenso wie in jedem anderen Unternehmen –verbringen tagtäglich eine gewisse Zeit mit Tätigkeiten, die sich auf andere Art vielleicht wesentlich effizienter und/oder kostengünstiger erledigen ließen. Nur weil ChatGPT keine vernünftigen Interviews führen kann, heißt das nicht, dass die Software nicht an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden kann – und dem arbeitenden Mensch damit Zeit freischaufelt. Ähnliches gilt für die momentan wieder aufgeflammte Debatte um Arbeitszeitverkürzung bzw. die 4-Tage-Woche: Nur weil es in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten so gehandhabt wurde, muss es nicht zwangsläufig als „normal“ gelten, von Montag bis Freitag in einem Ausmaß von 38,5 bzw. 40 Stunden „Vollzeit“ zu arbeiten. Drei statt bisher zwei freie Tage pro Woche klingen für viele wohl verlockend, und wenn die Motivation der Mitarbeiter stimmt lässt sich beispielsweise in 36 Stunden mindestens so viel erreichen wie sonst in 38,5. Die Produktivität kann also trotz geringeren Ressourceneinsatzes steigen. Dieses Phänomen samt der dazugehörigen wissenschaftlichen Studien hat unlängst die Wiener Universtitätsprofessorin Barbara Prainsack in einer Ö1-Radiosendung erörtert und dabei zwei weitere Aspekte hervorgehoben, die zusehends in den Vordergrund treten: Sinnstiftung im Beruf (im Sinne der Selbstverwirklichung) sowie ein Drehen des Arbeitsmarktes dahingehend, dass die Arbeitnehmer zukünftig am deutlich längeren Ast sitzen. Die Frage, wofür man arbeitet, bekommt damit multidimensionale Bedeutungen.
Ob man sich nun auf wissenschaftliche Befunde stützt oder dem eigenen Umfeld bzw. den persönlichen Erfahrungen größere Beachtung schenkt – in der Personal- und Fachkräftefrage brennt definitiv der Hut. Doch so akut die Problematik auch sein mag, an die Lösung sollte man nicht mit Hauruck-Aktionen oder Schnellschüssen, sondern mit Bedacht herangehen – denn da diese Thematik ohnehin noch eine ganze Weile „heiß” bleiben dürfte, ist ein nachhaltiger Ansatz umso wichtiger. Das betrifft allerdings in erster Linie die politischen Entscheidungsträger – bis hier Resultate vorliegen, muss man aber keineswegs Däumchendrehen. Im Gegenteil, darin liegt sogar eine Chance: Die Elektrobranche täte daher gerade jetzt gut daran, sich zu positionieren und um die Themenführerschaft bei den potenziellen Um- und Einsteigern zu bemühen.
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