Natürliche Ordnung der Dinge
Messen sind für mich eine besonders spannende Zeit. Als neugieriger Mensch bin ich immer auf der Suche nach Neuigkeiten. Fragen wie „Wie funktioniert das?“, „Wie kann man ein Problem besser lösen?“ oder auch nur „Was zum Teufel ist das?“ treiben mich um. Viele der Aussteller haben zu IFA und EFHT wieder eine ganze Reihe von Neuigkeiten angekündigt und die Vorfreude ist dementsprechend groß. So gesehen haben Messen für mich denselben Reiz wie der Einbruch in ein Süßwarengeschäft für einen Neunjährigen.Daneben stellt sich allerdings immer die Frage, ob diese Innovationen sich am Markt durchsetzen können. Ein Beispiel für eine Technologie, die zwar technisch ausgereift ist, aber nicht und nicht abheben will, ist Virtual Reality bzw. deren kleine Schwester Augmented Reality. Abgesehen von einigen Nischenanwendungen wie Gaming, in der Architektur, bei der Drohnensteuerung oder in der Ausbildung hat diese Technologie noch immer nur einen verschwindend geringen Marktanteil. Das Endkundensegment bleibt für VR-Anwendungen weitgehend verschlossen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits stellt sich eine virtuelle Realität nur schwer ein, wenn man nach drei Schritten bereits über ein – für den User – unsichtbares Kabel stolpert oder mit dem VR-Headset gegen die Wohnzimmerwand läuft. Andererseits fehlt für manche Kunden die Haptik und für andere ist einfach die Brille zu schwer oder zu klobig. Und dann braucht es natürlich noch immer geeigneten Content. Damit bleibt VR ein Werkzeug für Spezialanwendungen und Gamer. Für den durchschnittlichen Endkunden erschließt sich der Mehrwert dagegen nicht, das Versprechen wird nicht gehalten, weswegen VR im Tal der Enttäuschungen verharrt. Aber zumindest hat es VR schon einmal aus den Startlöchern geschafft und kann noch etwas werden.
Alles, was danach erfunden wird, widerspricht der natürlichen Ordnung und bedeutet das Ende der Zivilisation …
Andere Innovationen werden nicht einmal von experimentierfreudigen Nischengruppen angenommen, sondern sind unmittelbar wieder in der Versenkung verschwunden. Mein Lieblingsbeispiel für diese Kategorie ist derzeit der AI-Pin vom US-Unternehmen Humane, welcher in den USA im Vorjahr für 699 Dollar auf den Markt gebracht wurde. Dieses ansteckbare Gerät, das bei seiner Vorstellung sogar als möglicher Smartphone-Nachfolger gehypt wurde, sollte nur mit Sprachsteuerung sowie optischem Input funktionieren, alle Kommunikationsaufgaben übernehmen und dank künstlicher Intelligenz als persönlicher Assistent des Benutzers für das tägliche Leben dienen. Die geweckten Erwartungen in dieses AI-native Produkt – und ähnlicher Projekte – wurden nicht erfüllt. Die Gründer hatten schlicht zu viel versprochen. Anstatt den Benutzer von den Belastungen des Alltags freizuschaufeln, mussten diese erst recht wieder auf das Smartphone zurückfallen. Langsame KI-Anwendung sowie technische Schwierigkeiten sorgten darüber hinaus für eine schlechte Presse. Inzwischen liest man, dass die Gründer von Humane ihr Unternehmen verkaufen wollen. Das dürfte allerdings nicht so einfach gelingen, angesichts der anhaltenden Kritiken, welche auf das Unternehmen einprasseln. Die „giftige Mischung aus Über-Versprechen und Unter-Liefern“ hat wohl die gesamte Kategorie von KI-Geräten zurückgeworfen, die versuchen die derzeitige KI-Welle abzureiten, wie ein Kritiker in den USA anmerkte.
Manche Entwicklungen wiederum treffen scheinbar auf Anhieb den Nerv der Zeit und werden zu Standardprodukten. Das prominenteste Beispiel ist hier wohl die Mobilkommunikation. Allerdings hat sich deren Erfolg auch erst nach und nach eingestellt. Die ersten Mobilfunkgeräte waren teuer, klobig und unsicher. Der Durchbruch war erst mit der Umstellung auf eine neue Netzwerktechnologie möglich, womit mehr Geräte im Netz versorgt werden konnten und gleichzeitig der Preis sank. Damit konnte die Mobilkommunikation auch das bereits im Namen verpackte Versprechen wirklich einlösen. Dafür war der Kundennutzen dann auch sofort ersichtlich. Dies erst hat den Boom ermöglicht, womit gleich auch ein neuer Markt samt dazugehörigen Geschäftsmodellen entstanden ist.
Dieser Prozess mag uns heute im Rückblick kurz erscheinen, er dauerte allerdings einige Jahre. Deswegen halte ich es für einen Fehler, neue Technologien aus dem Handgelenk abzuschreiben, nur weil die Erwartungen nicht sofort erfüllt werden, oder die Verkaufszahlen vielleicht einmal zurückgehen. Vielmehr müssen wir uns das Potenzial einer Entwicklung ansehen. Denn technologische Durchbrüche stoßen immer wieder neue Türen auf, womit sich auch weitere Möglichkeiten ergeben oder die Rahmenbedingungen verändern. In dieser Hinsicht sollte uns allen die Einführung des Internets eine Warnung sein. Das war lange Zeit eine Spielwiese für Nerds, welche man in den Augen vieler getrost ignorieren konnte, bis die Einführung der ersten Browser den Zugang zum Netz demokratisierte. Selbst dann standen viele der Entwicklung skeptisch gegenüber und sahen das Potenzial der Technologie nicht. Viele meinten, dass allein wegen der langsamen Zugriffszeiten das Internet niemals ein Erfolg werde könnte, und hielten an ihren Gewohnheiten fest –während die Early Adopters schon fleißig das neu erschlossene Gebiet unter sich aufteilten und ihre Business-Modelle entwickelten.
Der von mir persönlich sehr geschätzte und leider viel zu früh verstorbene britische Autor Douglas Adams hatte einmal in diesem Zusammenhang nicht ganz ernsthaft über die „natürliche Ordnung der Dinge“ geschrieben: 1. Alles, was es schon gab, als du geboren wurdest, ist ganz normal. 2. Alles, was bis zu deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, ist unglaublich aufregend und mit etwas Glück kannst du deine Karriere darauf aufbauen. 3. Alles, was danach erfunden wird, widerspricht der natürlichen Ordnung und bedeutet das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen – bis sich nach etwa zehn Jahren allmählich herausstellt, dass es eigentlich doch ganz in Ordnung ist.
Man müsste allerdings dazusagen, dass in diesem Fall der Zug schon abgefahren ist und andere die Früchte ernten. Für unsere Branche bedeutet das, dass wir immer unsere Antennen ausfahren müssen. Wir müssen uns bei der Einschätzung von Innovationen am Potenzial der zukünftigen Entwicklungen orientieren und nicht am augenblicklichen Stand der Produkte. D.h. nicht, dass man sich jedes neue Produkt ins Regal legen muss. Aber wir müssen die Entwicklung neuer Trends ständig verfolgen und nicht eine Innovation sofort als Misserfolg abtun – auch wenn sie ihr Versprechen wie bei den oben genannten AI Pins im ersten Anlauf nicht erfüllt hat. Und dafür eignen sich Messen ausgezeichnet.
Ich mag und schätze Ihre Kommentare wirklich sehr, Herr Schebach. Zum ersten Absatz dieses Beitrags muss ich allerdings einen wirklich ernst gemeinten Einwand bringen: Welches Kind, welche Eltern können es für erstrebenswert finden, in ein Zuckerlgeschäft einzubrechen? Ist es wirklich Ihre Überzeugung, dass es nur Spaß machen kann, wenn dazu in ein Geschäft eingebrochen wird anstelle zu Öffnungszeiten dem Geschäft einen Besuch abzustatten und in den Produkten zu schwelgen? Wollen Sie auch allen Technikbegeisterten empfehlen, einfach in das nächstliegende Elektrogeschäft einzubrechen, weil es dann am meisten Spaß macht, mit den Produkten zu spielen?`
Ich bitte Sie ernsthaft, in Zukunft solche Aussprüche zu unterlassen und nicht kriminelles Verhalten als erstrebenswert und verständlich zu verharmlosen!
Danke für die Berücksichtigung meiner Einlassung.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Hirner
Sehr geehrter Herr Hirner
Selbstverständlich will ich hier nicht kriminelles Verhalten gutheißen. Im Endeffekt geht es hier um den Reiz, die Vorstellung. Für den Neunjährigen ist allein die Vorstellung, dass er einen unbegrenzten Zugang zu Süßigkeiten erhält und er nun ohne Einschränkung durch seine Eltern gustieren kann, eine Verlockung. Er wird Nachmittage mit dem Pläneschmieden verbringen, ohne diese jemals auszuführen, da auch ein Neunjähriger weiß, dass dies nicht in Ordnung ist – aber der Reiz bleibt. Für einen Journalisten ist die Verlockung, dass er bei einer Messe geballt Informationen herausfinden kann und den Ausstellern vor Ort auch ungebremst Fragen stellen kann. Insofern habe ich als Journalist einen Vorteil. Ich kann meiner Neugierde nachgeben und muss es nicht beim Pläneschmieden belassen.
Viele Grüße
Dominik Schebach
Herr Hirner, beim Bundesheer hat mein Ausbildner gesagt ich sei beim Exerzieren so verkrampft, würde man mir einen Schilling zwischen die Popobacken stecken, sie verlören die Prägung. In Ihrem Falle frag ich mich, ob ein Geldschein das Wasserzeichen einbüsste. Oder ist es Satire.
*er verlöre die Prägung
Jeder hat aus seiner Sicht Recht, es handelt sich bei dem Artikel um Gedanken von Herrn Schebach, die wie immer interessant sind. Da es kein vorgegebenes Faktum ist, sehe ich das auch nicht so schlimm. Es ist in keinster Weise ein Aufruf an die Leserschaft die gleich zu tun. Daher wieder einmal: „Es geht um des Kaisers Bart!“
Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!