Einfach mal re-seten

Wann hat dieses Gerede über Work-Life-Balance begonnen? Ich kann mich nicht erinnern. Google sagt (also eigentlich die Bertelsmann Stiftung): „Um vor allem Mitarbeiter großer Unternehmen vor dem Burn-out zu bewahren, wurde erstmals Anfang der 90er Jahre nach Lösungen gesucht. Das Schlagwort ‚Work-Life-Balance‘ war geboren.“
Woran ich mich hingegen sehr wohl erinnern kann, ist der Zeitpunkt, als das Wort „Work“ im Wortschatz der Millennials an Bedeutung verlor, aus dem Kompositum „Work-Life-Balance“ verschwand, und nur noch von „Life-Balance“ gesprochen wurde. Den Millennials (auch Generation Y – ausgesprochen „Why“ – genannt), also per Definition allen zwischen 1981 und 1995 Geborenen (die um die Jahrtausendwende ihre prägenden Kindheits- und Teenagerjahre hatten = deswegen „Millennials“), wird ja nachgesagt, „alternative Sichtweisen, Prioritäten und Lebensentwürfe in Bezug auf den Arbeitsmarkt“ zu haben. Schön formuliert! 😉
Die Millennials „schreiben Flexibilität groß, möchten sich selbst verwirklichen können, sind individualistisch und legen Wert auf ihre persönliche Entwicklung“. Sie haben ein großes Selbstbewusstsein und „wissen um ihren eigenen Wert auf dem Arbeitsmarkt“ (der sich meines Erachtens viel eher durch den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel ergibt, als durch das tatsächliche Können und die Qualifikationen der Gen Y). Jedenfalls lässt dieses große Selbstbewusstsein und das vermeintliche „Wissen um den eigenen Wert“ die Gen Y-ler Forderungen aussprechen, die manchem Boomer (bis 1965 geboren) und Gen X-ler (1966 bis 1980 geboren) den Mundwinkel zucken und eine Augenbraue hochschnellen lässt. So wurden mir (nicht über ein paar Ecken, sondern von persönlich Betroffenen) Situationen geschildert, in denen Millennials mehr als 50% Homeoffice forderten und im gleichen Atemzug ein Dienstauto, oder verlangten, dass die betriebliche Weihnachtsfeier als Überstunden finanziell abgegolten wird. Nicht von schlechten Eltern waren auch die Forderungen nach zehn Wochen Urlaub im ersten Arbeitsjahr, einem Dienstauto, weil der Weg von der Öffi-Station zum Arbeitsplatz mit 200 Metern Länge zu weit (und schier nicht zumutbar) war, und nach einem überwiegenden Homeoffice-Anteil in der Tätigkeit als Verkäufer … Auf die Frage, wie das denn funktionieren soll, erklärte der Bewerber dem nach einem Mitarbeiter suchenden Arbeitgeber: „Na, das müssen schon SIE sich überlegen!“
Blick zurück
Alleine der Gedanke, als Bewerber Forderungen an einen möglichen künftigen Arbeitgeber zu stellen, wäre in meinen frühen, noch jungen Jahren im Arbeitsleben völlig abwegig gewesen. Undenkbar (!) schon beim Erstkontakt über Gehalt, Urlaub, Überbezahlung und etwaige Benefits zu sprechen! Stattdessen hat man sich arbeitswillig, engagiert, nicht zimperlich und heiß auf Überstunden präsentiert.
Damals bewarben sich noch zig Leute um EINEN Job. Es herrschte nicht wie heutzutage dieser „War for Talents“, bei dem sich Firmen bewerben und attraktive Bedingungen schaffen müssen, damit sich die Millennials für sie entscheiden. Und hat man es früher dann tatsächlich geschafft, sich gegen die unzähligen Mitbewerber durchzusetzen und den Job zu ergattern, dann hat man sich reingehängt, hat gearbeitet wie ein Tier, ohne Pausen und Wochenende, dafür mit noch mehr Überstunden. Das Wort „Urlaub“ traute man sich frühestens nach zwei Jahren in den Mund zu nehmen, das selbe galt für „Gehaltserhöhung“. Man hat alles getan, um den Job gut zu machen, zu behalten und seinen Chef zufriedenzustellen.
Heute müssen die Firmen ihre jungen Angestellten zufriedenstellen, wobei ein gutes Gehalt schon lange nicht mehr reicht (das bekommt man auch bei anderen). Wie in HR-Handbüchern zu lesen ist, suchen Millennials nach „Purpose“ – also nach einer „sinnstiftenden Arbeit, die auf einen größeren Zweck einzahlt“ (und das ist nicht der Unternehmensgewinn). Hierarchien mögen sie gar nicht, die wirken sogar abschreckend. Immerhin wurden sie schon von Kindesbeinen an nach ihrer Meinung gefragt, sind selbstbestimmt (und Mitbestimmung gewohnt) erwachsen geworden und hierarchische „So machen wir das jetzt“-Ansagen funktionieren bei ihnen nicht. Sie möchten hingegen mitgestalten und vor allen Dingen mitentscheiden.
„Millennials suchen eine Aufgabe, die sie inspiriert und bei der sie an Themen arbeiten, die ihnen wichtig sind. Sie fordern von ihren Arbeitgebern, dass sie im Job die Freiheit haben, sich selbst zu verwirklichen und eigenverantwortlich zu handeln. Sie möchten die Möglichkeit haben, am Nachmittag Besorgungen zu machen und dafür am Abend noch auf E-Mails antworten zu können. Dafür erwarten sie vom Unternehmen die nötige Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeit und -ort.“ Die Millennials wünschen sich auch Flexibilität hinsichtlich ihres Karrierewegs. „Sie möchten nicht in vorgegebene Entwicklungspfade gezwängt werden. Stattdessen erwarten sie individuelle Modelle, die zu den Bedürfnissen und Wünschen in ihrer jeweiligen Lebensphase passen.“ Ganz schön hohe Ansprüche, könnte man jetzt denken … wobei, die Millennials zeigen sich im Gegenzug ja eh auch flexibel. Sie sind nämlich ziemlich wechselfreudig, was soviel heißt wie: Jahrelang bei demselben Unternehmen (das sie aufgebaut und in sie investiert hat) zu bleiben, können sich nur die wenigsten vorstellen.
Fundamentale Veränderungen 
Es sind noch nicht alle Jahrgänge der Generation Y in das Berufsleben gestartet – der Anteil steigt aber schnell an. Diese Generation wird die Arbeitswelt für die nächsten 50 Jahre prägen, wie es heißt, und für Unternehmen sei es jetzt schon essentiell zu verstehen, was Gen Y-Arbeitnehmer ausmacht. Denn ihre Werte und ihr Blick auf die Arbeitswelt werden Unternehmen „fundamental verändern“, wie Experten sagen.
Wir sind schon mitten drin in diesem fundamentalen Veränderungsprozess. Das wurde mir vor wenigen Tagen wieder vor Augen geführt, als mir ein Artikel in die Hände fiel. Darin ging es um sogenannte „Null Bock-Tage“, also um Tage, an denen man einfach keine Lust auf Arbeit hat, weil man sich entweder ausgelaugt fühlt oder sonstige „Heute nicht“-Empfindungen hat. Um an solchen Tagen keine Krankmeldung durchführen zu müssen oder gar einen Urlaubstag zu verschwenden, kommen immer öfter sogenannte „Reset Days“ ins Spiel. Ein Trend, der in den USA und Großbritannien bei großen Tech-Firmen längst zum Alltag gehört, und Mitarbeitern eine bezahlte, mentale Auszeit ermöglicht, ohne den Zwang, Gründe vorzulegen. Wie HR-Experten erklären, gehe es um „mehr Flexibilität und Erholung, um den modernen Arbeitsanforderungen gerecht zu werden“. Die durch Reset Days geschaffene Flexibilität ziele darauf ab, „den mentalen und emotionalen Druck zu senken und gleichzeitig die langfristige Produktivität zu fördern“.
Für jemanden (wie mich), dem eingetrichtert wurde, dass man (außer todkrank) immer arbeiten kann bzw. muss, ein abwegiger Gedanke.
- Übernachtig? „Dann gehe früher ins Bett.“
- Verkatert? „Wer feiern kann, kann auch arbeiten.“ (Mein Gott, wie oft ich diesen Spruch gehört habe!)
- Lustlos? „Das Leben ist kein Ponyhof – da musst Du durch!“
- Gestresst? „Mach Yoga oder Pilates, aber in Deiner Freizeit.“
- Verschnupft? „Nimm ein Aspirin!“
- Menstruationsgeplagt? „Das geht vorbei!“
Solche Antworten erhielt man früher, wenn man einen „Null Bock“-Tag hatte. Wenn man einer Arbeit nachgeht, geht man dieser Arbeit auch nach – jeden Tag. Außer man ist ansteckend und könnte einen Kollegen vom Arbeiten abhalten (weil er dann auch krank ist).
Natürlich klingt es verlockend, jederzeit einen Reset Day einlegen zu können, weil man halt „null Bock“ hat. Trotzdem stehe ich dem Thema kritisch gegenüber. Es gibt meines Erachtens schon ein ausreichendes Angebot an Möglichkeiten, sich von der Arbeit abzumelden – ob Krankmeldung, Urlaub oder Zeitausgleich. Sind da weitere freie Tage wirklich nötig? Außerdem gibt es genügend Branchen, wie das Handwerk (wo Teams aufeinander angewiesen sind) oder die Pflege, in denen so etwas nur schwer umsetzbar wäre.
Ich stelle mir auch die Frage, wie viele Reset Days (im Monat? Im Jahr?) einem Arbeitsnehmer zur Verfügung stehen sollen, und denke zugleich, dass Leute, die häufig eine solche Auszeit in Anspruch nehmen, möglicherweise prüfen sollten, ob sie überhaupt im richtigen Job sind. Und zum Punkt, dass durch Reset Days „die langfristige Produktivität gefördert“ werden soll, möchte ich einwerfen: Es schaffen voraussichtlich nur wenige Menschen, mit weniger Arbeit eine höhere Produktivität zu erreichen! In den meisten Fällen werden sich die Leute in der verkürzten Arbeitszeit eher noch mehr überfordern, noch näher am Burnout sein oder vermehrt Fehler machen, was weder ihnen noch ihrem Arbeitgeber hilft.
Aber jetzt mal abgesehen von Reset und Null Bock: Mit Blick auf die Arbeitswelt fällt mir auf, dass der Fokus zunehmend darauf liegt weniger zu arbeiten. Ob das in Zeiten, in denen der Arbeits- und Fachkräftemangel immer akuter wird, so förderlich ist, wage ich zu bezweifeln! Trotz allem lege auch ich heute einen Reset Day ein. Nicht weil ich Null Bock habe, sondern weil Sonntag ist! Noch dazu einer, der länger dauert – auch für Sie, falls Sie nicht vergessen haben die Zeit umzustellen 🙂
Und (weil es mir gerade einfällt) zum Abschluss noch etwas zum Schmunzeln: Kennen sie die Geschichte von den zwei alleinstehenden Ziegen? Sagt die eine: „Hast Du auch keinen Bock? 🙂
Das ist auch meine Erfahrung, wobei ich auch sagen muss, dass es sehr viele fleißige, gut ausgebildete und top motivierte Millenials gibt. Oft muss ich meinen Hut ziehen, was junge Menschen schon alles können und gemacht haben. Oft muss ich aber auch den Kopf schütteln, wenn man Aufgaben nicht bewältigen kann oder will und anstatt sich selbst zu reflektieren, die Schuld beim Aufgabensteller sucht oder wenn die Ansprüche und geforderten Privilegien schlicht nicht zu dem passen, was jemand zu bieten hat.
Unterm Strich sehe ich in jeder Generation viele Vorteile, die richtige Balance machts aus.
Welche Generation in Wahrheit schlauer ist, kann ich gar nicht sagen 😉