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Donnerstag, 2. Mai 2024
Ein Plädoyer für den (zeitweiligen) geistigen Leerlauf

Der Savannen-Modus – so schicken Sie Ihr Hirn in die Wüste

Hintergrund | Wolfgang Schalko | 25.03.2018 | | 2  Archiv

Ich hoffe (und wünsche Ihnen), Sie sind beim Lesen dieser Zeilen völlig im Hier und Jetzt und frei von sämtlichen ablenkenden Gedanken. Leider ist das ziemlich unwahrscheinlich. Ständig rattert uns durchs Gehirn, was wir gestern getan haben, heute nicht vergessen dürfen und bis morgen noch zu erledigen haben. Savannen-Modus nennen Hirnforscher dieses Phänomen der breiten unruhigen Aufmerksamkeit (die als „Multitasking” heute gemeinhin sogar als elementare Kompetenz gilt), die auf Dauer aber nicht nur krank, sondern auch dumm macht.

Hinter mir liegt die zweimalige Lektüre eines – wirklich empfehlenswerten – Buches, von dem Sie in der nächsten E&W Printausgabe mehr lesen werden: „Klug zweifeln“ von Heinz Jiranek, Diplom-Psychologe und Coach, das basierend auf der Systemtheorie in ebenso spannender wie ernüchternder Weise mit dem Glauben aufräumt, dass wir alles im Griff haben (könnten). Auf der Webseite des Autors (www.jiranek.de) bin ich auf einige andere Publikationen gestoßen und auch auf den Menüpunkt „Fundstücke“, wo ich folgendes las:

Leben im „Savannen-Modus“?
Seit erst 15 Jahren weiß man, dass das Gehirn über den sogenannten Savannen-Modus verfügt: Rundum-Aufmerksamkeit mit ständiger Angst vor Bedrohungen. Das ist nicht gesund. Unser „immer schneller, immer oberflächlicher“ macht krank.

In einer bemerkenswerten Sendung des Programmes SWR2 Aula erklären zwei Experten in verständlicher Sprache das Phänomen und seine „Behandlung“. Mal sehen, ob Sie in aller Ruhe einer 25-minütigen Radiosendung lauschen können. Das ist bereits – aus meiner bescheidenen Sicht – die Nagelprobe.

Ich verstand das als sportliche Herausforderung, die ich (wohl auch meiner Neugier geschuldet) auf der Stelle annehmen musste – was ich nicht bereute. Nachfolgend einige Auszüge aus dem Beitrag SWR2 Wissen: Aula „Immer schneller, immer oberflächlicher – wie Muße, Achtsamkeit und Kreativität zusammenhängen“ von Joachim Bauer und Stefan Schmidt. Zum Nachhören gibt es den Beitrag unter diesem Link.

„Immer schneller, immer oberflächlicher“

Schon die Einleitung des Beitrags macht stutzig: „Unsere Gesellschaft hat die Muße ins Abseits gedrängt, es bleibt kaum Zeit für Leerlauf, Langeweile, für die gemächliche Reflektion und das produktive Herumgammeln. Dabei ist Muße ein wichtiger Nährboden: Muße ist gleich Kreativität ist gleich Ideenreichtum ist gleich Achtsamkeit.“

Warum, führen die beiden Wissenschafter der Uni Freiburg näher aus: „Im Gehirn gibt es Systeme, die aktiv werden, wenn wir unter Stress sind, und es gibt Systeme, die aktiv sind, wenn wir innehalten, träumen und kreativ sein können. Wenn wir getrieben werden, dann sind das meistens die sogenannten Belohnungszentren, die gierig auf die nächste schnelle Lustbefriedigung machen oder aggressive Impulse auslösen, so dass wir beispielsweise nicht warten können, wenn wir von jemandem provoziert werden, ihm eine auf die Mütze geben müssen. Das ist dieser impulsgetriebene Modus des Daseins. Dem gegenüber steht eine Fähigkeit des Menschen, die wir dem Stirnhirn, dem sogenannten präfrontalen Cortex, verdanken. Er versetzt uns in die Lage, erst mal innezuhalten und zu überlegen, was will ich jetzt im Moment wirklich, was ist unter dem Aspekt der langfristigen Nützlichkeit, meiner langfristigen Ziele wirklich angezeigt. Und dabei stellt sich oft heraus, dass es nicht immer gut ist, sofort den Impulsen nachzugeben, die sich aufdrängen, sondern in der Lage zu sein, meine inneren Impulse anzuschauen, also sie nicht als schlecht zu erklären oder zu verdrängen, und mir unter dem Blickwinkel meiner längerfristigen persönlichen Ziele zu überlegen, was ich jetzt im Moment wirklich tun will.

(…) Es ist vor etwa 15 Jahren, also relativ spät in der Hirnforschung, ein Hirnsystem entdeckt worden, von dem man vorher noch gar nicht wusste, dass es existiert, und zwar ist das ein neuronales System, das immer dann aktiv wird, wenn wir eine breite unruhige Aufmerksamkeit haben. Das ist wahrscheinlich evolutionär entstanden in der Zeit, in der unsere Vorfahren in der Savanne lebten und permanent mit Gefahren von allen Seiten rechnen mussten. Und das ist der Savannen-Modus: Was habe ich gestern gemacht, was muss ich morgen noch tun, was darf ich jetzt nicht vergessen, habe ich meine Steuererklärung gemacht, mein Chef wollte noch mit mir reden und das Paper ist noch nicht zu Ende geschrieben. Dieses Unruhigsein scannt permanent die Umgebung ab. In diesem Savannen-Modus wird ein Hirn-System aktiv, das man Default Mode Network nennt. Das ist der Modus, der aktiv wird, wenn wir nicht konzentriert bei einer Sache bleiben können – der Zerstreuungsmodus sozusagen. Man hat in Experimenten in den letzten Jahren herausgefunden: wenn Menschen auf Multitasking trainiert werden, wenn sie also permanent im Savannen-Modus sind, dann nimmt die Fähigkeit ab, konzentriert bei einer Sache zu bleiben und ein Problem zu lösen. Verkürzt ausgedrückt könnte man sagen, Multitasking und Zerstreutheit machen dumm. Die Fähigkeit, Probleme in Ruhe zu lösen, kann nur dann zunehmen, wenn wir immer wieder die Ruhe und die Muße haben, uns mit einer Sache zu einer Zeit zu beschäftigen. Ich glaube, den Übergang des Menschen aus der Savanne in den Kulturmodus markiert im Grunde das Herauskommen aus dieser permanenten zerstreuten Aufmerksamkeit. Schubert hätte kein einziges Lied schreiben können und Goethe kein Gedicht dichten können, wenn er permanent um sich herum nach Gefahren gesucht hätte. (…) Man kann das in der Hirnforschung zeigen, dass das permanente Auf-dem-Sprung-Sein nicht gut ist für das Gehirn.

Das kann man an einem ganz einfachen Beispiel erläutern, das wir täglich erleben: Sie sitzen am Computer und wollen einen Text schreiben und Sie sehen plötzlich, dass eine Email reinkommt. Dann entsteht so etwas wie eine Neugier, man will meistens schnell wissen, was in der Email steht, und es ist sehr schwer, diesem Impuls zu widerstehen. Und wenn ich dieser Email nachgehe, wenn ich sozusagen diesem Stimulus folge, dann verliere ich meine langfristigen Ziele aus den Augen. Mein langfristiges Ziel war, den Text zu schreiben, und dann fange ich an, mich bei meiner Arbeit zu „zerstückeln“. Das wird mit dem Begriff der Fragmentierung bezeichnet. Es ist heute für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum noch möglich, in Ruhe über eine längere Zeit an einem Projekt zu bleiben. Entweder ist es eine Email oder das Telefon, das Smartphone oder der Kollege, die stören – diese Fragmentierung ist ein hochgradiger Stressfaktor. Und das ist etwas, was uns, glaube ich, langsam die Luft abdreht. Wir werden immer dümmer, wir werden immer mehr zur Reaktionsmaschinen, zu Menschen, die zu Automatismen getrieben werden, die den Stress im Nacken haben und von äußeren Einflüssen vor sich hergetrieben werden. Und da muss man die Herrschaft zurückgewinnen, um wieder selber zu bestimmen, was ist für mich wirklich wichtig.“

Es geht den Forschern somit darum, eine Lebenshaltung zu etablieren, die weg von schnellen, reaktiven, Automatismen geht und vom Begriff der sog. „Achtsamkeit“ geprägt ist: Achtsamkeit ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die durch zwei ganz zentrale Aspekte gekennzeichnet ist: Das eine ist, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit in der Gegenwart bin. Das heißt, ich überlege mir nicht, was muss ich heute Abend noch alles tun oder was passiert alles noch oder wie war das gestern Abend, sondern ich bin präsent, wenn ich im Gespräch bin, bei meinem Gegenüber, im Kontakt hier. Und das zweite ist, dass man eine akzeptierende Grundhaltung einnimmt, das heißt, dass man die Dinge, die einem entgegenkommen und die einem zustoßen, erst mal so nimmt, wie sie sind, man ist offen und neugierig. Es geht dabei um die Einstellung „als würde man es das erste Mal machen“, also man geht wieder zurück zum Start, erlebt die Dinge ganz neu. Diese Grundhaltung nennt sich Achtsamkeit, die stammt aus dem Buddhismus, man findet sie aber auch in vielen anderen spirituellen Traditionen. Sie wurde Ende der 1970er-Jahre von dem amerikanischen Mikrobiologen Jon Kabat-Zinn säkularisiert und in ein achtwöchige Kursformat gegossen. Dieser Kurs beinhaltet viele Meditationsübungen, das heißt, ich ziehe mich in die Stille zurück und schaue mir meine eigenen Reaktionstendenzen an, aber ich reagiere nicht mehr. Ich unterbreche ein Stück weit den automatischen Reiz-Reaktions-Mechanismus, indem ich mich meditativ in eine „stille Form“ begebe und dann mal schaue, was an Impulsen bei mir hochkommt. Und da machen wir, glaube ich, die allererste Tür auf zu der Möglichkeit, Ruhe erleben zu können. Wenn ich den ganzen Tag lang nur aktiv war, das kennen wir ja alle, und dann habe ich endlich mal die Möglichkeit innezuhalten, da taucht plötzlich eine innere Unruhe auf. Dann mache ich das Radio an, lese Zeitung oder kann es gar nicht erwarten, dass diese rote Fußgängerampel endlich grün wird. Und beim Meditieren geht es darum, dieses mentale System darin zu üben, in Ruhe zu sein und in Ruhe zu leben. Und das ist, glaube ich, etwas, was wir in unserer Kultur gründlich verlernt haben.

(…) Prinzipiell kann ich eine Achtsamkeitspraxis immer formal oder informell machen. Formal heißt, dass ich mich abends oder morgens 20 Minuten still hinsetze und meditiere. Man kann es aber auch informell machen, indem man bestimmte Handlungen entsprechend fokussiert. Das ist ein sehr angenehmes Instrument, in einer stressigen Alltagsumgebung eine innere Ruhe und einen inneren Anker zu finden. Ein Beispiel aus meiner Arbeit ist ganz typisch: Ich bin bei der Arbeit, habe viel zu tun, ich kriege viele Emails, komme nicht mehr hinterher und dann merke ich plötzlich, ich muss zur Toilette, und dann ertappe ich mich, dass ich zur Toilette renne. Und dann fällt mir die Achtsamkeit ein und ich beginne, auf meine Schritte zu achten und meinen Körper zu spüren. Das bringt mich in einem extrem kurzen Zeitraum, auch weil ich darin geübt bin, aus dem ganzen zeitlichen hektischen Druck raus und manchmal ist es so, ich komme zurück an den Schreibtisch, und es ist verblüffend, wie ich merke, wenn ich mir das nüchtern anschaue, dass ich das, was gerade noch dringlich erschien, auch noch später oder morgen erledigen kann.

In diesem Sinne: Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie den Sonntag!

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Kommentare (2)

  1. Ich lebe seit Jahren im Savannenmodus. Aus Erfahrung kann ich sagen, es schützte mich schon vor Unfällen, weil ich die Gefahr schon vorher sah. Beruflich lerne ich schnell, weil ich alles aufnehme. Menschlich sehe ich meinen Gegenüber an, wie es ihm geht, was andere vielleicht übersehn.
    Anstrengend war die Jugend, weil ich als junge Dame alles ungefiltert speicherte. Jetzt mit Mitte 40 ists ok. Ich habe die Vorteile aus diesem Modus gefiltert. 😀

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