Erschlagen von der Masse
Wolfgang Schalko Volle Lager, Konsumflaute und sich zu Ende neigende Geschäftsjahre – diese Kombination hatte schon im Vorfeld vermuten lassen, dass der heurige Black Friday ein besonderes „Spektakel” werden würde. Darauf will ich hier und heute aber nicht herumreiten, sondern vielmehr die Kommunikation rund um den Black Friday als Beispiel für ein Phänomen bzw. eine Entwicklung hernehmen, die uns alle betrifft – und als höchst bedenklich einzustufen ist: Im immer erbitterter geführten Kampf um unsere Aufmerksamkeit kommt uns ebendiese zusehendes abhanden.
Diese Woche erreichte die Black Friday eMail-Flut in meinem Postfach ihren Höhepunkt – nicht für heuer, sondern quasi das All-Time-High. Ich habe mittlerweile hunderte (!!) eMails mit einschlägigen Betreffzeilen gelöscht – ungelesen, wohlgemerkt. „Genervt” beschreibt zwar tendenziell richtig, aber dennoch nur sehr unzureichend, was diese Nachrichtenmenge in mir auslöste. Mit dem Ergebnis, dass ich (abgesehen von den „Bis zu minus XX Prozent”-Botschaften im Betreff) praktisch nichts von deren Inhalt mitbekam.
Das kam mir in den Sinn, weil dieses Phänomen sozusagen die praktische Anknüpfung an ein Buch liefert, das ich heuer gelesen habe – und dessen Lektüre ich jedem nur ans Herz legen kann: „Abgelenkt” von Johann Hari. Darin beschreibt der Autor „Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen” (so auch der Untertitel des Werkes). Kurz zum Inhalt: Hari muss in einem Selbstversuch der digitalen Entgiftung (d.h. mehrwöchige Handy-, Internet- und Social Media-Abstinenz) feststellen, dass der Verzicht auf digitale Endgeräte und Medien nicht ausreicht, um die verloren gegangene Konzentration wiederzugewinnen. Vielmehr ist das Problem systembedingt und vom Einzelnen per se nicht zu lösen. Insgesamt hat Hari 12 Ursachen zusammengetragen und mit Experten und Wissenschaftern unterschiedlichster Richtungen analysiert – und gleich als erste nennt er „Die Zunahme von Geschwindigkeit, der Druck des Umschaltens und Filterns“.
Wie Hari ausführt, dauert es einer Studie der Oregon University zufolge im Schnitt 23 Minuten, bis man sich wieder genau so fokussiert wie zuvor auf eine Sache konzentrieren kann, wenn man unterbrochen wurde. Selbst ein kurzer Blick von nur wenigen Sekunden (beispielsweise auf das Handy-Display, während man eigentlich gerade am Laptop eine eMail beantwortet) beansprucht eine nicht unerhebliche Zeit, bis sich das Gehirn wieder neu konfiguriert hat. Besonders schlimm wird dieser sog. Wechselkosten-Effekt (Switch Cost) dann, wenn man sehr häufig zwischen verschiedenen Aufgaben und Tätigkeiten wechselt: Das macht einen nicht nur nachweislich langsamer, sondern führt auch zu mehr Fehlern, geringerer Kreativität und weniger gutem Erinnerungsvermögen. Das von vielen angestrebte und betriebene Multitasking ist somit eigentlich höchst unproduktiv. Wie Hari außerdem herausfand, haben die meisten Büroangestellten heute niemals (!) auch nur eine einzige Stunde Arbeitszeit, in der sie nicht unterbrochen werden. Und das auf allen Unternehmensebenen – wobei die Luft hier nach oben hin dünner wird: Der durchschnittliche CEO eines Fortune-Global-500-Unternehmens hat überhaupt nur 28 Minuten ununterbrochene Arbeitszeit pro Tag.
Ein zweites Problem, das Hari in diesem Zusammenhang identifiziert hat, ist die Geschwindigkeit: Die meisten Menschen fühlen sich von ihr angezogen, weil sie sich großartig anfühlt – allerdings bedeutet sie auch, dass vieles immer oberflächlicher wird. Denn für die Tiefe, die manche Aufgaben bräuchten, bleibt schlichtweg keine Zeit mehr. „Wenn man etwas gut machen will, muss man sich sorgfältig auf eine Sache konzentrieren und nichts anderes gleichzeitig tun. Dazu gibt es keine Alternative. Als ich all dies erfuhr, wurde mir klar, dass mein Wunsch, tonnenweise Informationen aufzunehmen, ohne meine Konzentrationsfähigkeit zu verlieren, dem Wunsch glich, jeden Tag bei McDonald’s zu essen und dabei schlank zu bleiben – ein unmöglicher Traum“, schreibt Hari. Dazu komme, dass unser Gehirn nicht nur mit dem Umschalten überlastet sei, sondern auch mit der Aufgabe, aus all den einprasselnden Reizen und Informationen die irrelevanten herauszufiltern.
Ich denke, jeder von uns kennt das Gefühl, ständig zu werken und trotzdem nicht von der Stelle zu kommen bzw. sich einfach nicht mehr „herauszusehen“. Darum: Weniger ist tatsächlich oft mehr. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was mir das großzügige Kübeln der Black Friday-Mails alles erspart hat – und das ist letztlich viel wertvoller als Geld.
Exzellenter Bericht