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Samstag, 27. April 2024
Institutionalisierte Sturheit

Durchgeknallt!?

Hintergrund | Andreas Rockenbauer | 12.05.2019 | Bilder | |  Meinung, Wissen

Andreas Rockenbauer
Ich vermute, dass wir einfach zu langsam waren. Egal. Tatsache ist, dass einige der Spielzüge, den die gegnerischen Handballer gegen uns abspulten, gründlich misslangen. Weil wir nämlich nicht das machten, was sie glaubten, dass eine durchschnittliche Verteidigung machen würde, als sie die Spielzüge einstudierten. Das soll vorkommen und ist nicht weiter tragisch. Vorausgesetzt, das wird nicht zum System...

Ungeschickt ist, wenn man den einmal gefassten Plan stur weiterverfolgt, obwohl offensichtlich ist, dass er misslingen wird. Das war nicht der einzige Fehler unserer Gegner, aber er war an diesem Tag symptomatisch für den Tabellenführer, der damit vielleicht die Meisterschaft vergeigte. Gegen ein paar alte (aber ambitionierte) Säcke, von denen ich nicht der einzige bin, der sich die eigenen Spielzüge nicht merkt und daher situationselastisch drauflos spielt…

Einen einmal eingeschlagenen Weg „auf Teufel komm raus” weiterzuverfolgen, obwohl sich die Rahmenbedingungen gravierend verändert haben, kann in einigen wenigen Fällen ein Zeichen von bewundernswertem Durchhaltevermögen sein. In den meisten Fällen ist es bloß eines: Dämlich. Dabei zählt es zu einer Stärke des Menschen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Eine Eigenschaft, die in der Masse jedoch immer wieder verlorenzugehen scheint. Schwarmintelligenz? Von wegen.

Schon vor einiger Zeit habe ich mich mit diesem Phänomen beschäftigt und dieses negative Emergenz genannt. Mit Emergenz wird die magische Eigenschaft eines Systems bezeichnet, mit einem Verhalten zu überraschen, das nicht auf die Eigenschaften seiner Bestandteile zurückzuführen ist. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa unser Bewusstsein: Im einzelnen ziemlich einfach gestrickte Neuronen formieren sich zu einem unheimlich komplexen Netzwerk und lassen etwas entstehen, das uns bis heute vor ein großes Rätsel stellt. Negative Emergenz ist das Gegenteil davon: Etwa ziemlich blödsinnige Aktionen einer (großen) Gruppe von Menschen, von denen jeder für sich durchaus intelligent ist.

„Schwarmdummheit”

Der ehemalige IBM-Manager Gunter Duecker hat einen viel eingängigeren Begriff für dieses verbreitete Phänomen gefunden und darüber gleich ein ganzes Buch geschrieben. Er nennt das „schwarmdumm”. Die einleitenden Worte zu seinem Buch („schwarmdumm – So blöd sind wir nur gemeinsam”) sprechen für sich: „Wir wissen zwar genau, was wir wollen: Raus aus dem Hamsterrad! Work smarter, not harder. Das Dilemma ist nur, wir kommen so selten dazu. Denn das Ganze ist viel dümmer als die Summe der Intelligenz der Einzelnen. Wachstumsdiktat, Zeitdruck und Überforderung, sinnlose Meetings und unausgereifte Entscheidungen sind in Unternehmen und Organisationen nicht die Ausnahme, sondern die Regel.”

Von einem guten Freund wurde mir folgende – exemplarische – Geschichte zugetragen, die sich vor kurzem im Österreich-Ableger eines amerikanischen Konzerns abgespielt hat und die ich hier in stark verkürzter Form wiedergeben möchte. Dazu muss man vorausschicken, dass in diesem Unternehmen für alle Vertriebsmitarbeiter folgende Weisung gilt: Erstens müssen sämtliche Hotels und Flugtickets für zu besuchende Kongresse von den Mitarbeitern selbst gebucht werden und zweitens dürfen Zahlungen ausschließlich über Kreditkarten von American Express abgewickelt werden, obwohl diese in Europa ein eher lausiges Zahlungsmittel sind.

Vom Effizienzstandpunkt her rätselhaft scheint die dogmatische Buchungs-Dezentralisierung: Wenn mehrere Mitarbeiter des Unternehmens gemeinsam mit Kunden zu einem Kongress fliegen, bucht das Vertriebssekretariat zwar Flug und Hotel für Kunden, nicht jedoch für Mitarbeiter. Diese müssen über ein kompliziertes firmeninternes Buchungssystem durch jeden selbst erfolgen, was viel Zeit kostet. Zeit, die ein Vertriebler eigentlich bei seinen Kunden sein sollte, und nicht schwitzend und fluchend über den Laptop gebeugt.

„Unterlagen? Haben wir nicht!”

Warum die Amex-Karte meines Freundes, nennen wir ihn Alex Müller, plötzlich gesperrt wurde, ist bis heute nicht geklärt. Jedenfalls musste eine neue her. Das aber wurde zur schier unendlichen Geschichte, weil Amex über Wochen hinweg stereotyp behauptete, keine Daten von ihm zu haben, obwohl dieser alle Formulare viermal(!) geschickt hatte. Hilferufe an seinen Arbeitgeber hatten keinen Erfolg: Er solle sich, sagte man ihm dort, gefälligst selbst um dieses Problem kümmern.

Absurdes Detail: Als Müller im Zustand fortgeschrittener Verzweiflung eine pointiert formulierte Mail an seinen Vorgesetzten und ein paar „CCs” schickte, kam prompt eine harsche Zurechtweisung, weil er in seiner eMail zu viele Großbuchstaben und Rufzeichen verwendet hätte und man ihm das als Aggression auslegen könne… Das solle er in Zukunft gefälligst unterlassen. Auf das zugrundeliegende Problem ging niemand ein.

Erst drei(!) Monate nach dem ersten Kartenantrag rückte man im Zuge eines etwas lauter geführten Telefonats bei Amex mit der Information heraus, dass die Unterlagen doch vorhanden wären, aber Müllers Arbeitgeber dem Kartenantrag nicht zugestimmt habe… Wie sich später herausstellte, hatte Müller seinen Arbeitgeber bereits im Zuge des ersten Kartenantrags darauf aufmerksam gemacht, dass dieser eines der Formulare gegenzeichnen müsse, was dort abgelehnt wurde. Mit dem Hinweis, dass das nicht mehr nötig sei.

Nachdem  der nächste Kongress plötzlich nur noch zwei Wochen entfernt war und Müller, anders als seine Kunden, noch immer weder Flug noch Hotel hatte, schlug dieser im Unternehmen einmal mehr Alarm. Und da nun offensichtlich war, dass nicht Müller, sondern das Unternehmen (in trauter Einigkeit mit Amex) Schuld an der ganzen Misere trug, kam Bewegung in die ganze Sache. Wenn man das so nennen will…

Denn nach ausgiebiger Prüfung durch die interne Rechtsabteilung(!) wurde Müller nun angewiesen, „ausnahmsweise” über seine eigene Kreditkarte zu buchen. Der verweigerte das jedoch mit dem Hinweis, dass die Firma nach dem von ihr mitverursachten Schlamassel  die Buchungen gefälligst über das Vertriebssekretariat übernehmen solle. Das – wurde ihm mitgeteilt – würden die internen Prozesse aber nicht vorsehen. Auf den Einwand, man hätte für denselben Kongress doch bereits Flüge und Hotels – nämlich jene für die Kunden – gebucht, bekam er zur Antwort, dass man für Kunden buchen dürfe, für Mitarbeiter nicht. Basta.

Das Ende der Geschichte: Alex Müller besuchte den Kongress nicht. Immerhin darf angenommen werden, dass seine Kunden vom Mitbewerb dort bestens betreut wurden… Wer nun meint, dass das ob der hirnlosen Starrheit diese Geschichte ziemlich unglaubwürdig klingt, hat vermutlich das große Ganze hinter der Verhaltensauffälligkeit mancher Unternehmen noch nicht verstanden. Ich auch nicht. Aber vielleicht ist das ja bloß Zeichen eines gesunden Hausverstands…

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