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Montag, 29. April 2024
Editorial E&W 4/2024

Bitte nicht zaudern 

Hintergrund | Dominik Schebach | 14.04.2024 | Bilder | |  Meinung
Die Wirtschaft lahmt. Zuletzt wurden die Wachstumsprognosen für das österreichische BIP von den heimischen Wirtschaftswissenschaftlern für dieses Jahr auf 0,2% heruntergeschraubt. Trotz dieser augenblicklich widrigen Rahmenbedingungen für darf man mittelfristigen Herausforderungen für die Branche nicht aus den Augen verlieren.

Der ursprünglich für Jahresanfang erwartete Umschwung wurde von den Wirtschaftswissenschaftlern auf das zweite Halbjahr verschoben: Einerseits dämpfen hohe Zinssätze die Nachfrage nach Investitionsgütern sowie die Konjunktur am Bau, andererseits erholt sich auch der private Konsum nicht so richtig. Die hohen Abschlüsse im Vorjahr haben den Kaufkraftverlust der privaten Haushalte aus den vergangenen Jahren noch nicht so richtig ausgeglichen. Sie geben daher nur sehr zögerlich ihr Geld aus. Und wer will es den Endkonsumenten verübeln. In den vergangenen fünf Jahren sahen sich die Österreicher – gemeinsam mit ganz Europa – einer Vielzahl von Krisen gegenüber, von denen man geglaubt hat, dass man sie nach dem zweiten Weltkrieg schon längst überwunden hatte. Es gab in der Nachkriegszeit zwar dauernd irgendwo Krisen, aber seien wir uns ehrlich, das waren Peanuts. Systemkrisen, welche die gesamte Gesellschaft betreffen, waren Dinge für andere Leute bzw. Kontinente. Diese Sicherheit ist vorbei. Die Europäer und die Österreicher mussten sich innerhalb kürzester Zeit mit Corona, Ukrainekrieg und Energiekrise auseinandersetzen und jetzt kommt das Thema Künstliche Intelligenz. Die verspricht nicht weniger, als dass sie die Arbeitswelt in einem Ausmaß verändern wird, wie wir es seit der Industriellen Revolution nicht gesehen haben. Dass die Konsumenten unter diesen Umständen zuerst ihre Reserven wieder auffüllen wollen, ist verständlich. Anstatt das Geld aus den hohen Lohnabschlüssen auszugeben, wird es zuerst einmal gespart. In Deutschland macht deswegen ein Wort die Runde, dass für Volkswirte einen besonders bösen Klang hat: Angstsparen.

D.h. aber nicht, dass man völlig passiv bleiben muss.

Für die Branche ist das fatal. Denn die Rahmenbedingungen werden nun von Faktoren bestimmt, die außerhalb des eigenen Einflussbereichs liegen. D.h. allerdings nicht, dass man völlig passiv bleiben muss. Vielmehr sollten sich der Handel, aber auch das Gewerbe jetzt auf die bevorstehenden Veränderungen vorbereiten. Und ja, das betrifft zu einem guten Teil das Thema Künstliche Intelligenz. Wer dieses als Modeerscheinung abtut, oder ob der Herausforderung zaudert, läuft Gefahr, von der Entwicklung überholt zu werden. Wie weit die Überlegungen bei großen Handelskonzernen wie Walmart schon gediegen sind, vermittelte z.B. Olivia Reid, Senior Strategist bei der Beratungsagentur Journey, in einem Vortrag beim TCG Summit vergangenen März in Berlin. Kurz zusammengefasst: Während in der Vergangenheit Visionen oft an den fehlenden technischen Voraussetzungen scheiterten, so sind dieses Mal die notwendigen Grundlagen – sowohl von Seiten der Hardware, als auch seitens der Software – schon vorhanden. Generativ AI – oder Modelle Künstlicher Intelligenz, die auftragsbezogen Probleme lösen, werden mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt und befinden sich z.T. schon im Einsatz. In den kommenden Monaten und Jahren werden sie immer mehr ihren Weg in die Wirtschaft sowie zu den Endkonsumenten finden. Man kann davon ausgehen, dass in den kommenden fünf Jahren diese Werkzeuge einen profunden Einfluss haben werden, wie eine Marketingkampagne geplant wird, wie Unternehmen ihre Einkäufe tätigen oder Projekte planen. Genauso werden aber auch die Endkonsumenten KI nutzen, um Produkte zu suchen, Urlaubsreisen zu planen oder einzelne Aspekte ihres täglichen Lebens zu managen.

In einem Kommentar vor rund einem Jahr habe ich hier dieses Thema schon einmal angeschnitten – und nicht ganz ernst gemeint die Vision einer Handelszukunft entwickelt, in der sich die KI-Systeme von Online-Handel und Endkonsumenten mit gegensätzlichen Aufträgen aufheben. Reid entwarf dagegen eine Vision – und diese ist ebenso wenig von der Hand zu weisen – in der die KI-Systeme von Handel und Endkunden ineinandergreifen, und damit Mehrwert für Endkunden und Unternehmen schaffen. In diesem Fall ist es imperativ, dass der Handel bei dieser Entwicklung dabei ist, weil sonst die gesamte Online-Suche am Handel vorbeiläuft. Dann hilft auch eine Google Search-optimierte Webseite nur bedingt. Ein wichtiger Aspekt bleibt allerdings auch hier bestehen, wie Reid ausführte. Wenn die Produktauswahl bereits vom KI-Agenten erledigt und der Preisvergleich schon abgehakt wurde, dann kann sich der einzelne Händler nur noch durch das Einkaufserlebnis und die Kundenbeziehung differenzieren. Und das ist spannend. Denn damit kommen wir auch im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz wieder auf den Menschen zurück. Dieser muss nach den Ausführungen von Reid immer im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen.

D.h. jetzt nicht, dass der Fachhändler das Thema KI sicher ignorieren kann. Es gibt aber Hoffnung, dass der mittelständische, stationäre Elektrofachhandel sein Geschäftsmodell erfolgreich auch für die kommenden Entwicklungen adaptieren kann. Allerdings tickt die Uhr. Die oben angesprochenen fünf Jahre sind jetzt keine so lange Zeit. Deswegen ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich mit den Systemen auseinanderzusetzen und für sich eine Strategie zu überlegen, wie man KI für sich am besten nutzt, in welchen Bereichen sich KI bereits heute einsetzen lässt und welche Vorteile man dabei erzielen kann. Denn das KI-Zeitalter beginnt schleichend. D.h. eigentlich hat es schon begonnen, schließlich werden KI-Anwendungen seit vielen Jahren in verschiedenen Anwendungsbereichen im Handel, aber auch von den Endkunden eingesetzt. Jetzt fügen sich die Elemente allerdings zu einem großen Ganzen zusammen und das Thema ist im Bewusstsein der Entscheider in der Wirtschaft und Endkonsumenten angekommen.

Während sich die Branche also hier einer mittelfristigen strategischen Herausforderung gegenübersieht, dürfen wir auch nicht die kurzfristigen Bedrohungen ignorieren. In diese Kategorie fallen Online-Marktplätze wie Temu oder Shein, welche derzeit mit Billigware den europäischen Markt überschwemmen (mehr dazu in unserer Cover-Story ab Seite 16). Solche Marktplätze sind meiner Meinung nach schon längst der Kategorie „Ärgernis“ entwachsen. Vielmehr stellen diese Plattformen für mich zumindest auch ein Wettbewerbsproblem dar und sind auch moralisch fragwürdig. Denn ein chinesischer Händler, der direkt aus Fernost importiert, umgeht u.U. nicht nur den Zoll, sondern auch viele andere Gebühren und Abgaben wie E-Schrott oder Verpackungsabgabe. Das verzerrt einerseits die Preise, andererseits belastet der Müll trotzdem das heimische System, womit der österreichische Handel für den Konkurrenten auch noch die Entsorgungsgebühren bezahlen muss. Und in einer Zeit, in der uns allen die Belastungen durch den Klimawandel tagtäglich vor Augen geführt werden, Luftfracht massiv zu fördern, ist einfach nur pervers. Zumindest hier kann der Handel allerdings zu einer positiven Veränderung beitragen, durch Aufklärung für die Kunden und Druck auf die politischen Entscheidungsträger.

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